Interview mit Cemil Sahinöz (Neue Westfälische)

Von | 4. März 2015

Herr Sahinöz, als Vorsitzender des Bündnisses Islamischer Gemeinden (BIG) sprechen sie für einen Teil der Muslime in Bielefeld. Wie groß ist die Zahl der Mitglieder?


Cemil Sahinöz: Das lässt sich nicht genau ermitteln. Die Moschee-Vereine haben zwar Mitgliederzahlen, aber es sind Familien, die hinter den Einzelpersonen stehen. Die genauen Zahlen stehen nicht im Vordergrund, sondern die Tatsache, dass diese Vereine einen nicht unerheblichen Anteil der Migrantenbevölkerung erreichen.

 

Bei der Demonstration am 19. Januar erwähnten sie 50.000 Muslime in Bielefeld. Daraufhin meldeten sich säkulare Muslime bei der NW. Sie protestierten, weil sie nicht von Ihnen als BIG-Vorsitzenden repräsentiert werden möchten.


Sahinöz: Wenn ich diese Zahl verwendet habe, dann, weil es geschätzt so viele Muslime in der Stadt und der Umgebung gibt und nicht, weil ich meine, sie alle zu vertreten. Im Übrigen weiß niemand genau, wie viele es sind, auch in Deutschland ist das ja unklar, manche sagen, es sind drei Millionen Muslime, andere sprechen von vier oder gar fünf Millionen. Es gibt keine offizielle Registrierung.

Auf der Demo haben Sie auch gesagt, „Muslime sind keine Terroristen und Terroristen sind keine Muslime“. Kann irgendjemand einem anderen absprechen, Muslim zu sein?


Sahinöz: Nein, das geht natürlich nicht. Wenn Attentäter oder IS-Terroristen sagen, sie sind Muslime, kann ihnen niemand die Religionszugehörigkeit nehmen. Wenn ich sage, das sind keine Muslime, dann meine ich das von meinem Islam-Verständnis und dem der überwältigenden Mehrheit der Muslime aus. Denn jeder, der den Koran kennt, kann sagen: Wer so etwas tut, kann kein Muslim sein.

Die Gewalttäter sagen: Was wir machen, deckt sich mit Versen im Koran. Wir sind die richtigen Muslime. Was können Sie denen entgegensetzen?

Sahinöz: Denen würde ich sagen, dass alle Verse und Aussprüche des Propheten im Kontext gelesen werden müssen. Die Frage ist: Wann, wo, unter welchen Umständen und wie hat der Prophet etwas gesagt. Den Salafisten, die jede Interpretation ausschließen, würde ich das an Alltagsbeispielen verdeutlichen: Wenn jemand etwas an einem bestimmten Tag gesagt hat, egal, zu welchem Thema, dann kann das später auch nur dann richtig verstanden werden, wenn die Umstände zu dem Zeitpunkt berücksichtigt werden. Und ich zeige an Beispielen aus dem Koran und den Hadithen, dass selbst Muhammed das schon so gemacht hat.

 

Sind Fundamentalisten noch erreichbar von anderen Muslimen?

Sahinöz: Das ist ganz schwer, weil sie irgendwann nicht mehr in die Moscheen kommen, sie radikalisieren sich über Internetprediger. Wir müssen sie deswegen früh auf ihrem Weg abfangen. Das geht nur über Präventions- und Aufklärungsarbeit in den Familien. Bei der Radikalisierung spielen ja anfangs vor allem soziale Themen wie Stress zu Hause oder auf der Arbeit eine Rolle. Und dann kommen die Rattenfänger und ködern die, die sich schwach fühlen. Sie sagen ihnen, hier bei uns bist du etwas wert, hier kannst du ein Held sein. Die Methoden der Verführer sind immer gleich.

Wie weit zeigen sich fundamentale Einstellungen in den Moscheen? Mir wurde berichtet, dass zahlreiche muslimische Mädchen, wenn sie in die Pubertät kommen, plötzlich nicht mehr in die Jugendzentren kommen dürfen, auch gibt es immer wieder Diskussionen über Klassenfahrten und Schwimmunterricht für muslimische Mädchen in den Schulen.


Sahinöz: Das sind Verhaltensweisen, die eher kulturell oder familiär als religiös bedingt sind. Im Koran ist es zum Beispiel erlaubt, Christinnen und Jüdinnen zu heiraten; auch hat Muhammed gesagt, sie sollen schwimmen lernen. Das war ihm, der in der Wüste gelebt hat, sogar wichtig. Diese Themen haben auch viel mit Kindererziehung zu tun. Deswegen gebe ich auch Seminare zur Erziehung in den Familien.

In welche Richtung geht die Entwicklung? Gibt es Fortschritte bei der Integration der Muslime oder mehr und mehr eine Parallelgesellschaft? Zuletzt hörte ich von türkischstämmigen Bielefeldern da sehr skeptische Einschätzungen.

Sahinöz: Es gibt da noch viel zu tun, das ist unbestritten. Aber es ist auch schon viel erreicht worden. Die Debatten laufen, und ich möchte, dass wir erkennen, dass das Glas halb voll ist, nicht halb leer. Wir sollten an dieser Stelle die Sprache der Liebe und der Barmherzigkeit verwenden und nicht die Sprache des Zornes.

Vielleicht sind die Imame, die in den türkisch dominierten Moscheen predigen, die falschen Ansprechpartner für ein Zusammenwachsen. Sie kommen aus der Türkei. Wie sollen sie die Jugend erreichen, wenn sie nicht einmal Deutsch sprechen, geschweige denn, die Lebenswelt der Jugendlichen hier kennen?

Sahinöz: Das Problem ist in der Tat groß. In den ersten 30 Jahren der Gastarbeiter war es verständlich, dass die Imame aus der Türkei kamen. Es gab ja auch gar keine Möglichkeit, Imame in Deutschland auszubilden. Jetzt haben wir aber andere Bedingungen und andere Bedürfnisse. Wir brauchen Imame aus Deutschland. Und in diese Richtung geht es auch schon. Es gibt jetzt Fakultäten an den Universitäten, die Imame ausbilden.

In Münster geschieht das. Der dortige Professor für Islamische Religionspädagogik, Mouhaned Khorchide, wurde jedoch angefeindet von Islamverbänden. Wie passt das zusammen?

Sahinöz: Die Diskussion über Khorchide hat auch viel mit persönlichen Dingen zu tun, und da klinge ich mich aus. Der Professor betont eine Reform des Islam. Das Wort Reform aber schreckt Muslime sehr ab, es ist eher ein christlich, theologischer Begriff. Besser wäre es, von einer zeitgemäßen Interpretation des Islam zu sprechen. Das ist es doch, was wir alle meinen. Die Debatte darüber muss es geben.

Wollen die Verbände das auch? Wie weit reicht der politische Einfluss der konservativ-islamischen AKP-Regierung unter Erdogan? Schließlich finanziert deren Religionsbehörde die Imame. Und was ist mit der umstrittenen Gülen-Sekte, dessen Führer Fethullah Gülen früher Freund, heute Erzfeind Erdogans ist?

Sahinöz: Für die Imame gilt Politikverbot in den Moscheen. Politische Einflüsse sehe ich nicht. Auch die Gülen-Kooperation spielt meines Wissens nach keine Rolle in den Moscheen. Es gibt zwei oder drei Einrichtungen in Bielefeld, die ihnen zugerechnet werden. Aber da muss man vorsichtig sein, weil das nicht offen gezeigt wird. Gülen war ursprünglich Anhänger von Said Nursi (1870-1960, Islamgelehrter aus der Türkei). Nursi wollte Wissenschaft und Theologie, Tradition und Moderne zusammenbringen. Gülen hat sich aber in den 1970er Jahren abgespalten und seine eigene Bewegung gegründet, die auch auf politischer Ebene arbeitet.

Auch die Islamverbände vermitteln mitunter den Eindruck, Politik machen oder beeinflussen zu wollen.

Sahinöz: Wir in Bielefeld machen das nicht, wir sprechen über ganz andere Themen vor Ort, die das alltägliche Leben betreffen: Bildung, Beruf, Umwelt, Familienprobleme, Spielsucht  und solche Sachen. Außerdem haben wir als BIG nur eine Repräsentationsfunktion. Wir stellen uns als Gesprächspartner für Verwaltung, Politik und Presse zur Verfügung, um die Kommunikation zu vereinfachen.

Neue Westfälische, 04.03.2015